2022-05 E-BRAiN Newsletter – Was Patient*innen präferieren

Aktuelle Forschungsinfo aus dem Team der Hochschule Neubrandenburg im Bereich Gesundheitsökonomie und Medizinmanagement unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Axel Mühlbacher

Akzeptanz und Präferenzen von Patient*innen in einer digitalen Neurorehabilitation

 

Im Gesundheitswesen werden zunehmend digitale Technologien eingesetzt, um den veränderten Bedürfnissen, steigenden Fallzahlen und sinkenden Ressourcen zu begegnen. Zunehmend wird diese digitale Transformation im Bereich der Neurorehabilitation von Schlaganfall-Überlebenden notwendig. Mehr als zwei Drittel der Schlaganfall-Überlebenden haben anhaltende neurologische Defizite, die in einer Neurorehabilitation behandelt werden müssen.

Digitale Technologien sind den Patient*innen noch weitgehend unbekannt. Die erfolgreiche Implementierung hängt von dessen Akzeptanz ab. Entscheidungen im Gesundheitswesen werden häufig auf Basis klinischer Daten getroffen. Neben dem erwarteten klinischen Erfolg beeinflussen technische Merkmale digitaler Technologien die Akzeptanz von Patienten.

Zur Ermittlung des Nutzens einer Intervention können Werturteile der Patienten (Präferenzen) auf der Grundlage verschiedener Dimensionen (klinische Outcomes, technische Aspekte) herangezogen werden. Bei der Entscheidungsfindung sollten die Werturteile der Patienten berücksichtigt werden, um die Entscheidungen stärker auf den Patient*innen auszurichten. Patient*innenzentriertheit wirkt sich positiv auf die Einstellung der Patient*innen, ihre Verhaltensabsichten und letztlich auf ihre Akzeptanz aus. Akzeptanz ist ein mehrdimensionales Konstrukt und Voraussetzung für das Engagement der Patient*innen.

In verschiedenen Experimenten der Wissenschaftlerinnen Ann-Kathrin Fischer M.Sc. und Christin Juhnke, M.A. (Hochschule Neubrandenburg / Fachbereich Gesundheit, Pflege und Management; Leitung Prof. Dr. rer. oec. A. C. Mühlbacher) wurde die Akzeptanz und die Präferenzen von Schlaganfall-Patient*innen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung hinsichtlich klinischer Outcomes einer Neurorehabilitation und technischer Aspekte digitaler Technologien untersucht.

 

Technische Aspekte digitaler Technologien in Interventionen

Die digitale Transformation bedingt den vermehrten Einsatz digitaler Technologien. Die Weltgesundheitsorganisation betrachtet diese digitalen Technologien als wichtige Instrumente zur Verbesserung der unzureichenden Versorgung, der mangelnden Einhaltung klinischer Leitlinien, des mangelnden Zugangs zu Informationen oder Daten und des Verlusts der Nachsorge. Digitale Technologien können die Verteilung von Gesundheitsgütern verwalten, die Kommunikation und Leistung von und zu Gesundheitsdienstleistern unterstützen, Gesundheitsdaten erfassen, mit Patient*innen kommunizieren, den Gesundheitszustand von Patient*innen langfristig verfolgen und aufzeichnen und Patient*innen in Interventionen anleiten und unterstützen. Zu den digitalen Gesundheitsmaßnahmen gehören telemedizinische Behandlungen sowie Maßnahmen, bei denen (humanoide) Roboter, digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs), virtuelle Realität und andere innovative Technologien zum Einsatz kommen.

Abb. 1 Welche digitale Therapie ist Ihrer Meinung nach die Beste?

Die Bewertung von technischen Aspekten digitaler Therapien erfolgte auf der Grundlage von 7 Attributen in einem Discrete Choice Experiment: (1) Erklärung und Darstellung der Therapieübung, (2) Informationen von der digitalen Technologie in der Therapie, (3) Kontakt zu Fachkräften (4) Wahlmöglichkeiten der Patienten im Therapieprozess, (5) Datenverarbeitung, (6) Eigenbeteiligung pro Monat und (7) Therapieerfolg innerhalb von 6 Monaten. In dem Experiment haben Patient*innen wiederholt zwischen hypothetischen digitalen Therapien die „beste“ ausgewählt (siehe Abbildung 1). Es wurden zwei Studienpopulationen befragt: A) Schlaganfall-Patient*innen (Experimentelle Gruppe); B) Allgemeinbevölkerung (Kontrollgruppe).

Es haben bisher 1259 Teilnehmer*innen an der Studie teilgenommen (Experimentelle Gruppe n = 165; Kontrollgruppe n = 1094). Wir berechneten ein Conditional Logit Modell (Validitätsprüfung) und ein Mixed Logit Regression Modell (Hauptanalyse). Für die statistische Analyse wurde Stata 17 verwendet. Insgesamt (n = 1259) wurde die relative Bedeutung des Therapieerfolgs als am wichtigsten eingestuft, gefolgt von der Eigenbeteiligung pro Monat und dem Kontakt mit Fachkräften. In der Gruppe der Schlaganfall-Patient*innen gibt es signifikante Unterschiede in den Präferenzen. Schlaganfall-Patient*innen leiden in den meisten Fällen unter anhaltenden Einschränkungen in der Kognition, der visuellen Wahrnehmung, dem Sprechen und dem Sprach- sowie Leseverständnis. Daraus ergibt sich ein differenzierter Bedarf u.a. in der Erklärung und Darstellung von Therapieübungen (Texte lesen, Bilder oder Videos sehen, Sprache hören). Entgegen der aktuellen Datenschutzdiskussion in Deutschland, die eine Barriere für die Digitalisierung im Gesundheitswesen darstellt, wird die Datenverarbeitung nicht abgelehnt. Ein Vorteil der Datenverarbeitung kann in der Verbesserung von Schnittstellen, Forschung und Evaluation gesehen werden, was sich wiederum positiv auf die klinischen Ergebnisse auswirkt. Flexibilität (Wahlmöglichkeit der Patienten im Therapieprozess) wird als Vorteil gesehen, insbesondere in Bezug auf den Ort der Therapie. Durch den Einsatz digitaler Technologien können die Zugangsmöglichkeiten erweitert und eingeschränkte Gruppen zur Partizipation an Interventionen befähigt werden. Unterschiede in den Präferenzen der therapieerfahrenen Schlaganfall-Patienten sind auch in der Eigenbeteiligung und dem Therapieerfolg zu erkennen. Patient*innen erleben klinische Ergebnisse (Therapieerfolg) sowie nicht-klinische Merkmale (technische Merkmale) während der Therapien. Die Bewertung der Merkmale kann sich im zeitlichen Verlauf verändern. Wenn Therapieziele weitgehend erreicht wurden und die Erfolge erhalten werden oder klinische Veränderungen nur noch gering erreicht werden, können sich Therapieziele und dessen Bedeutung verändern. Technische Aspekte können zunehmend an Bedeutung gewinnen. Ein Vorteil kann in der Entlastung im Alltag durch eine erhöhte Flexibilität liegen.

Akzeptanz ist ein multidimensionales Konstrukt, und die Anforderungen an digitale Technologien umfassen verschiedene Dimensionen. Mithilfe von diesen Informationen über die Präferenzen und die Akzeptanz der Patient*innen können wir informierte Entscheidungen treffen. Entscheidungsträger sollten patientenorientierte Information für die Entwicklung, bei der Implementierung, in der Preisgestaltung und in der Entscheidungssituation für die Wahl einer geeigneten Therapieoption für Patient*innen nutzen, um ein patient*innenzentriertes und wertbasiertes Gesundheitssystem zu fördern.

 

Klinische Aspekte

In der EU ist der Schlaganfall die zweit- oder dritthäufigste Todesursache und eine der Hauptursachen für erworbene Behinderungen. Durch eine Rehabilitationsbehandlung können die Behinderungen nachhaltig verringert werden, und die Patient*innen können wieder mehr Unabhängigkeit in ihrem täglichen Leben erlangen. Zur Sicherstellung einer rechtzeitigen Rehabilitation gehört auch die Entscheidung darüber, welche Pflegestufe und welche Leistungen für Schlaganfallüberlebende wichtig sind. Die Entscheidungen von Patient*innen und Ärzt*innen sind jedoch nicht immer kongruent, und der Wert der Neurorehabilitation ist unbekannt, aber für die Entscheidungsfindung notwendig. Indizes wie die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) werden häufig verwendet, um Ergebnisse für die Entscheidungsfindung zu messen. Wie bei anderen Instrumenten wird auch bei der ICF jedem Aspekt die gleiche Bedeutung beigemessen. Während das übergeordnete Ziel jeder Rehabilitation immer die Teilhabe ist, unterscheidet die ICF jedoch nicht zwischen der Wichtigkeit einzelner Aktivitäten oder Körperfunktionen und geht davon aus, dass alle Veränderungen die gleiche Bedeutung für die Patient*innen haben. Sie berücksichtigt nicht, ob Menschen Verbesserungen einzelner Funktionen als relevanter erachten. Ziel ist es, zu untersuchen, inwieweit sich die präferenzgewichteten Kernelemente der ICF von derzeitigen Behandlungsentscheidungen unterscheiden. Drei Best-Worst-Scaling-Experimente werden zur Bewertung von Körperfunktionen und Aktivitäten herangezogen. Es werden ICF-Kernelemente berücksichtigt, die für die Armparese (BWS II, 36 Attribute), die Wahrnehmung (Neglect) (BWS III, 6 Attribute, 3 Level) und die Aktivitäten (BWS I, 34 Attribute) relevant sind. Rekrutiert werden sowohl Schlaganfallpatient*innen als auch Personen aus der Allgemeinbevölkerung.

Abbildung 2: Welche Therapie ist Ihrer Meinung nach die Beste und welche ist die Schlechteste?

Bis August 2022 wurden N=1112 Teilnehmer*innen (51% männlich) aus der deutschen Allgemeinbevölkerung rekrutiert. Im Rahmen der Studie werden derzeit Daten über die Patient*innenpopulation gesammelt. In BWS I werden Attribute der Selbstversorgung am höchsten bewertet, während Gemeinschaft, soziales und bürgerliches Leben von geringerer Bedeutung sind. Im 2. Experiment zu der Funktionseinschränkungen bei einer Armparese haben die Befragten klar zum Ausdruck gebracht, worauf der kurzfristige Fokus in der Rehabilitation liegen sollte. Die höchsten Werte wurden für "komplette Schädigung" der willkürlichen Bewegungsfunktionen (SQRT: 1,396) und für das Gangbild (SQRT: 1,265) erzielt. Die geringste Bedeutung ergab sich für "keine Schädigung" bei Muskelkraft und Muskeltonus (SQRT: 0,729). Im Experiment zum Neglect (siehe Abbildung 2) ist die Orientierung zu anderen Personen am wichtigsten (LD: 0,276).

Wenn Funktionsverbesserungen Auswirkungen auf Aktivitäten haben und diese Auswirkungen auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität haben, stellt sich die Frage, wie der Wert von Funktionen gemessen werden kann. Die Ergebnisse der Allgemeinbevölkerung zeigen, dass anders als in der ICF Körperfunktionen und Aktivitäten von den Betroffenen nicht gleich gewichtet werden. Die Ergebnisse offenbaren Unterschiede zwischen den Einschätzungen der Patient*innen und der Öffentlichkeit und der derzeitigen klinischen Praxis, in der alle Beeinträchtigungen gleich gewichtet werden. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer präferenzbasierten Ergebnisbewertung und der Berücksichtigung der Meinungen der Betroffenen in der alltäglichen Therapie.

 

Ausblick: Effizienzgrenze

Basierend auf Patient*innenakzeptanz, Patient*innenpräferenzen und klinischen Daten wird in einem generischen Modell unter Berücksichtigung von Datenunsicherheit ein empirischer Vergleich zwischen konventionellen Formen der Rehabilitationstherapie und einer Therapiealternative mit einem humanoiden Roboter durchgeführt. Ziel ist es, die Kosteneffizienz zu analysieren und eine Preis-Akzeptanz-Kurve (PAC) bei variablen hypothetischen Kosten zu berechnen. In der Effizienzgrenze werden alle verfügbaren Alternativen mit ihren Kosten und ihrem Nutzen verglichen. Eine Therapie darf kein schlechteres Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen als verfügbare Alternativen.  Es wird geprüft, ob pro Kosteneinheit ein ausreichender Nutzen erzielt wird. Die effizientesten Alternativen bilden die Effizienzgrenze. Weist die neue Therapie ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis auf, ist sie erstattungsfähig. Die berechnete PAC veranschaulicht in Abhängigkeit von der Zahlungsbereitschaft, wann ein Produkt bei gegebenem Budget in jedem Fall bezahlt werden kann. Bezogen auf einen vorgeschlagenen Preis für ein Produkt kann der/die Entscheidungsträger*in an der Kurve ablesen, bei welchem Prozentsatz der Simulationen er/sie unter einer Zahlungsbereitschaft liegen würde und somit die richtige Entscheidung treffen würde, wenn er/sie das Produkt zu diesem Preis kaufen würde.

Ein Forschungsverbund mit Beteiligung der Universität und Universitätsmedizin Greifswald, Universität Rostock und Hochschule Neubrandenburg

Verbund-Koordinator

Prof. Dr. med. Thomas Platz
Universitätsmedizin Greifswald
AG Neurorehabilitation - E-BRAiN
Fleischmannstraße 44
17475 Greifswald

Ansprechpartner

Team der AG Neurorehabilitation
E-MAil: e-brain@med.uni-greifswald.de
Telefon: 03834 86-6966
Fax: 03834 86-6902

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