2021-07 E-BRAiN Newsletter - Warum sind Präferenzstudien wichtig?

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit unserem siebenten Newsletter in 2021 wollen wir Sie über einige der aktuellen Forschungsarbeiten des Teams der Hochschule Neubrandenburg im Bereich Gesundheitsökonomie und Medizinmanagement unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Axel Mühlbacher informieren.

Entscheidungen in der Medizin sind komplex und betreffen mehrere Ebenen. Primär gibt es die individuelle Behandlungsposition, bei der Ärzt*innen feststellen, welche Behandlung nach dem Stand der medizinischen Erkenntnis geeignet ist, eine Behandlungsziel zu erreichen und den Betroffenen (Patient*innen) zur Entscheidung vorschlagen. Andererseits gibt es gesellschaftliche Institutionen die zu entscheiden haben, welche Therapie zugelassen und von der Solidargemeinschaft finanziert werden soll, da sie für Betroffene einen relevanten Nutzen generiert.

Sowohl Behandler als auch Entscheidungsträger im Gesundheitswesen wären gut beraten, die Werturteile der Betroffenen zu kennen und zu berücksichtigen. Entscheider sollten z.B. darüber informiert sein, welches Risiko individuelle Patienten(-gruppen) bereit sind zu akzeptieren, und, was das maximal akzeptable Risiko für diese Patientengruppen wäre.

Entscheidungen im Gesundheitswesen

Akteure im Gesundheitswesen, wie pharmazeutische Unternehmen, Regulierungsbehörden und Interessenvertreter betrachten einzelne klinische Effekte einer gesundheitsbezogenen Intervention, die einen scheinbaren Patientennutzen versprechen. Dieser Patientennutzen ist dann ausschlaggebend für die Akzeptanz und Vergütung einer Intervention oder Technologie. Ein Zusatznutzen im Vergleich zu einer alternativen Intervention kann zu höheren Preisen führen. Die Betrachtung einzelner klinischer Daten und Evidenz sind notwendig, aber reichen für eine transparente und rationale Entscheidungsfindung nicht aus. Die Akzeptanz von Innovation ist maßgeblich durch den erwarteten Nettonutzen bestimmt.

Mangelhafte Entscheidungsprozesse im Gesundheitswesen resultieren in klinischen und ökonomischen Fehlsteuerungen:

  1. Geringe Akzeptanz von nutzenstiftenden Technologien (positiver Nettonutzen) führt zur Unterversorgung,
  2. wobei die Akzeptanz von Technologien mit einem ungünstigen Risiko-Nutzen Profil (negativer Nettonutzen) zur Überversorgung führt.
  3. Zu hohe Preise für innovative Technologien führen zu einer Verschwendung knapper Ressourcen im Gesundheitswesen,
  4. und niedrige Preise, resultieren in einer Fehlallokation, die die Forschung und Entwicklung negativ beeinflussen könnte.

Solche Fehlsteuerungen durch die Entscheidungsprozesse können vermieden werden, wenn bei der Zulassung, Vergütung, Preisfestsetzung und den Therapieentscheidungen die Präferenzen der Patienten berücksichtigt werden. Diese lassen sich wissenschaftlich untersuchen mit der Frage, welche Kriterien Präferenz- und Wahlentscheidungen von Betroffenen beeinflussen.

Die Methoden der multi-kriteriellen Entscheidungsfindung bieten darüber hinaus die Möglichkeit mit Problemen durch die Berücksichtigung mehrerer Kriterien in den Entscheidungen umzugehen. Denn häufig sind Behandlungsoptionen durch mehrere Aspekte charakterisiert, die alle zur Präferenzentscheidung bei Betroffenen beitragen. Evaluationskonzepte zur Bestimmung des Wertes einer Gesundheitstechnologie (englisch: Value Assessment Frameworks) spielen hier eine wichtige Rolle.

Die Bedeutung von Patientenpräferenz-Informationen und -Studien

In der Präferenzforschung wird Transparenz darüber geschaffen, wie Abwägungsprozesse gemacht werden. Das heißt, es wird aufgedeckt, welche Kompromisse Patienten hinsichtlich der Abwägung von Nutzen und Schaden bei einer Entscheidung eingehen. Präferenzforschung kann über die relative Wichtigkeit von positiven und negativen Effekten informieren. Transparenz schaffen, über die patientenseitige Bewertung von klinischen Ergebnissen und unerwünschten Ereignissen, und zwar ausgehend von den Personen, die damit tatsächlich konfrontiert werden.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass Intervention oder Gesundheitstechnologien durch ihre Eigenschaften oder Attribute beschrieben werden, die intrinsische Werte haben. Der Nutzen, der mit einer bestimmten Behandlung verbundene Wertbeitrag, kann so festgestellt werden. Durch die Betrachtung einer veröffentlichten klinischen Studie kann für Experten der Nutzen aus der klinischen Perspektive offensichtlich sein, aber gegebenenfalls nicht für Patienten oder andere Interessengruppen, die in Expertengremien sitzen und Entscheidungen fällen.

Der wahrgenommene Patientennutzen kann sich ebenso unter bestimmten Patientengruppen unterscheiden. Ein Medikament, welches zum Haarausfall führen kann, wird wahrscheinlich eher akzeptiert von Personengruppen, die bereits keine Haare mehr haben.

Während Informationen über Mortalität, Morbidität, Lebensqualität, Qualität der Dienstleistungen, Erfahrungen der Patienten und Kosten von entscheidender Bedeutung sind, ist es auch wichtig, eine Evidenzbasis darüber zu schaffen, was die Präferenzen der Patienten sind, was die Patienten wollen und wie diese Präferenzen analysiert werden könnten, selbst bei Heterogenität innerhalb der Patientenpopulation.

Aktuelle Situation im Gesundheitswesen

Bis heute gibt es keine veröffentlichtes Evaluationskonzept (z.B. Health Technology Assessment Framework), das transparent und verbindlich Patientenpräferenzinformationen (PPI) verwendet.

Die Evaluation von Gesundheitstechnologien anhand des Patientennutzens macht nur dann einen Sinn, wenn den Entscheidern Informationen über die Kompromisse vorliegen, die ein Patient bei einer Therapie bereit ist einzugehen. Es müssen PPI verwendet werden, die die Bedeutung der einzelnen Kriterien wiederspiegeln, wenn in einer Evaluation mehrere Kriterien einbezogen werden sollen.

In den aktuellen Health Technologie Assessment Berichten werden PPI nicht systematisch berücksichtigt. Es gibt keinen strukturierten, transparenten und konsistenten Ansatz für die präferenzbasierte Berechnung des Patientennutzens.

Wie werden Patientenpräferenzen erhoben?

Im Gesundheitswesen hat sich die Methode der Wahlexperimente etabliert. In einem solchen Experiment als Teil einer Befragung werden dem Patienten mehrere hypothetische Behandlungsalternativen zum Vergleich präsentiert. Die Alternativen werden beschrieben durch verschiedene Merkmale (z.B. Therapieerfolg innerhalb von 6 Monaten) mit unterschiedlichen Ausprägungen (z. B. 60 von 100 Patienten oder 90 von 100 Patienten haben einen Therapieerfolg innerhalb von 6 Monaten). Die Merkmale der Behandlungsalternativen können auf klinischen Effekten (z.B. Wirksamkeit der Behandlung) und unerwünschten Ereignissen (z.B. Nebenwirkung der Behandlung) basieren. In der Befragung lassen sich die Merkmale zum besseren Verständnis mit einer grafischen Darstellung oder einem einfachen Text beschreiben. Die Patienten werden gebeten, zwischen den Behandlungsalternativen die bevorzugte Alternative auszuwählen. Diese Wahlaufgaben werden mehrfach wiederholt. Durch die Wiederholungen werden Merkmalsausprägungen mit großem Einfluss auf die Wahlentscheidung identifiziert. Außerdem können Zusammenhänge, z.B. Wechselwirkungen, zwischen einzelnen Merkmalen ermittelt werden. Die statistische Auswertung erfolgt mit Regressionsmodellen. Die latente Klassenanalyse (Latent Class Analysis) identifiziert z.B. einzelne Patientengruppen mit gemeinsamen Präferenzen.

 

Abbildung  1 - Beispiel einer Wahlaufgabe aus einem Discrete Choice Experiment

 

Patientenpräferenzen im E-BRAiN-Projekt

Im Projekt „Evidenz-basierte Robot-Assistenz in der Neurorehabilitation“ (E-BRAiN) soll ein humanoider Roboter so gestaltet werden, dass dieser für Patienten, die einen Schlaganfall erlitten haben, in einer Therapie der Armfunktionen oder von Wahrnehmungsstörungen (Neglects) geeignet ist. Wir wissen noch nicht, was Patienten bereit sind für Kompromisse in der Therapie mit einem humanoiden Roboter einzugehen und wodurch Patienten bereit sind eine solche neuartige Therapie zu akzeptieren. Anhand der Ermittlung der Patientenpräferenzen möchte das Team der Hochschule Neubrandenburg herausfinden, welche Merkmale einer Therapie mit einem humanoiden Roboter wichtig sind und somit Anreize für eine Akzeptanz darstellen würden. Die Akzeptanz von Interventionen durch Patienten ist eine wichtige Voraussetzung für die Effektivität und Effizienz einer Therapie. Nur wenn Patienten eine Therapie akzeptieren, kann diese auch zu schnellen und anhaltenden positiven Ergebnissen führen. Die Ausrichtung an Patientenpräferenzen und somit an dem Werturteil von Patienten fördert die Akzeptanz positiv.

Axel Mühlbacher, Ann-Kathrin Fischer, Christin Juhnke, Andrew Sadler

 

Für weitere Informationen empfehlen wir Ihnen die folgende Literatur:

  1. Mühlbacher, A., Johnson, F.R. Choice Experiments to Quantify Preferences for Health and Healthcare: State of the Practice. Appl Health Econ Health Policy 14, 253–266 (2016). https://doi.org/10.1007/s40258-016-0232-7
  2. Craig, B.M., Lancsar, E., Mühlbacher, A.C. et al. Health Preference Research: An Overview. Patient 10, 507–510 (2017). https://doi.org/10.1007/s40271-017-0253-9

 

Ein Forschungsverbund mit Beteiligung der Universität und Universitätsmedizin Greifswald, Universität Rostock und Hochschule Neubrandenburg

Verbund-Koordinator

Prof. Dr. med. Thomas Platz
Universitätsmedizin Greifswald
AG Neurorehabilitation - E-BRAiN
Fleischmannstraße 44
17475 Greifswald

Ansprechpartner

Team der AG Neurorehabilitation
E-MAil: e-brain@med.uni-greifswald.de
Telefon: 03834 86-6966
Fax: 03834 86-6902

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